achtzehnjährig zum ersten mal in paris mit meinem cousin karim (nicht mein richtiger cousin). nach belleville zur wohnung meiner tante, die ausser landes ist, wir dürfen dort wohnen, aber es sind weder schlüssel noch concierge auffindbar, auch der türcode geändert, ich panisch meiner tata rachida nach marokko telefoniert (verbindung schlecht, guthaben aufgebraucht), sturmgeklingelt, und endlich öffnet ihr ex mit alkoholfahne die tür zur versifften wohnung, die er uns überlässt, er zieht in sein wohnmobil, das er in der nähe geparkt hat, lädt uns zum mittagessen in eine kantine für arbeits- und/oder wohnungslose ein (couscous, weil freitag, rotwein, weil frankreich) und dann ziehen karim und ich los in richtung châtelet. dort, kaum aus dem metrolabyrinth ans tageslicht getreten, von sechs CRS gefilzt, klauben wir mit zitternden händen die schweizer identitätskarten aus unseren lacoste-trainingsanzügen, „da staunt ihr, was?“ (das haben wir natürlich nicht gesagt, nur gedacht) und die polizisten staunen wirklich ein bisschen. wenig später auf der rue saint-denis von sexarbeiter*innen angesprochen, beschämt den blick abgewendet, man könnte ja etwas geheimes preisgeben, könnte in etwas verstrickt werden oder versteinert. „bébés“, „bogosses“, „chous“ gerufen, gehen wir schnell weiter, aber nicht zu schnell, cool bleiben, als seien wir uns solche avancen gewohnt, wir zwei halben portionen. es fühlt sich danach irgendwie komisch an, die schaufensterpuppen anzuschauen, die an derselben strasse vor den geschäften stehen (ich meine, noch komischer, als es sich ja ohnehin anfühlt, schaufensterpuppen anzuschauen, oder etwa nicht?), als würden sie uns auch gleich anzügliche angebote zuflüstern. um sie drapiert kleidungsstücke französischer streetwear-marken, wie sie unsere lieblingsrapper in ihren videoclips tragen, airness, bullrot, boxeurs des rues. da tritt ein verkäufer aus dem laden, aufdringlich, beginnt ein gespräch, und man muss auskunft darüber geben, woher man kommt, und ja, man sei halb-halb, und nein, man spreche kein arabisch, dass „h’chouma 3lik!“ übersetzt „schäm dich!“ bedeutet, weiss man aber schon, da oft gehört. und wie um ihn, den verkäufer, in seiner empörung über ein solches sprachdefizit zu beschwichtigen, kauft man in seinem shop eine dieser winzigen umhängetaschen, ärgert sich noch während der transaktion über die verschwendeten 12 €, aber c’est la vie. das highlight: bei footlocker ein paar air max „requins“ (dt. haifischnikes) und auf der puces de clignancourt bei so einem militärmenschen ein t-shirt mit einer aufgestickten M16 und dem schriftzug NO COMPROMISE erstehen, und viel geld bleibt nicht übrig. und um unseren paris-séjour mit etwas sightseeing abzurunden, fahren wir zuletzt noch in die banlieue, zur cité pablo picasso, die wir aus den rapvideos kennen, und werden dort noch einmal von der polizei kontrolliert – et voilà, das war paris für meinen cousin karim und mich mit 18. —rsk
Auf Thomas Juliers Instagram-Profil gibt es ein Foto von drei lächelnden Pariser Teenagern in Kapuzenpullis und Jogginghosen, die weisse T-Shirts hochhalten, auf denen in roter Schrift das Wort VIOLATION steht. Es ist der Titel einer Ausstellung Juliers in einem Project Space in Belleville. Die Schriftart ist dem Logo der grössten schwedischen Modekette nachempfunden und der Künstler hat den Titel auf Shirts ebendieser Marke drucken lassen — die Etikette im Nacken liest sich H&M Conscious —, die in der Mitte des Ausstellungsraums an einer Kleiderstange hängen. Zweimal prangt der VIOLATION-Schriftzug an der Fensterfront. Während Jahren fotografiert Julier in Schaufenstern hängende Werbeplakate für H&M-Kinderkollektionen, steht also auf der Strasse mit Kamera, aufgespanntem schwarzen Tuch, assistiert von Künstlerkollege Cédric Eisenring, und macht die Aufnahmen durch die Glasscheibe. Seine Schwarzweiss-Fotografien sind querformatige Ausschnitte der Kampagnenshots: Büsten, Halbfiguren, Kopfbilder von hübschen Kindern, die hübsche Erwachsene zu werden versprechen. Distant Relatives heisst die Serie abfotografierter Werbungen, in der tech-nische Perfektion und scheinbar neutrale Schnappschussästhetik gleichermassen durchscheinen. Bilder von Bildern von Bildern, oder: Fotografie, die sich als Fotografie ausstellt. Gemeinplätze. To photograph someone means to violate them, Every photograph […] is a gross violation of human dignity usw. Die vom Künstler vorgenommene Beschneidung der Vorlage rückt die Kindergesichter ins Zentrum, liefert sie dem Voyeurismus der Betrachtenden aus. Natürlich geschieht dies bereits in der Werbung, mit der man obendrauf noch unter schlechtesten Bedingungen hergestellte Textilien verkaufen will. In Juliers Serie wird das Branding hingegen nur im einzigen Doppelporträt deutlich: ein Grossbuchstabe M auf einer Collegejacke, die Worte FOREVER DREAMER auf einer Baseballmütze. VIOLATION eröffnet exakt ein Jahr nach dem Skandal um das rassistische H&M-Kampagnenfoto eines Schwarzen Jungen, der einen Kapuzenpullover mit der Aufschrift COOLEST MONKEY IN THE JUNGLE trägt (ich vergesse manchmal, dass in der Kampagne auch ein weisser Junge mit Hoodie vorkommt: MANGROVE JUNGLE SURVIVAL EXPERT). Die drei oben erwähnten Belleville-Boys denken zunächst, die hell erleuchtete Galerie mit dem Schriftzug auf den Scheiben und der Kleiderstange in der Raummitte sei ein neuer Concept Store in ihrer Nachbarschaft. Julier freut sich über diese Verwechslung, nimmt drei VIOLATION X H&M Conscious-Shirts von der Stange und schenkt sie ihnen. Es gibt auch ein Video von den Distant Relatives, von der H&M-Website herunterge-ladene Gifs: vier Sequenzen, fünf Kinder, Endlosschleife. Ein sanfter Wind weht durch Haare, die hinters Ohr gestrichen werden, eine Drehung in Richtung Kamera, ein Lächeln. In einem Text über Emil Brunners Porträts von Dorfkindern im Bündner Oberland lese ich zum ersten Mal das Wort „Blickbotschaften“. Die Fotograf*innen der H&M-Kampagne referenzieren die Bilder der Fotograf*innen der Farm Security Administration, die Kindermodels die Posen der Topmodels. Bevor Julier sich daran macht, die Plakate in aufwendigem Verfahren durch die Glasscheibe zu fotografieren, fragt er bei H&M nach, ob er die abgehängten Werbeplakate haben dürfe, um sie im Studio abzufotografieren. Nein, die Plakate werden in die Zentrale in Schweden zurückgeschickt und dann ordnungsgemäss entsorgt (die Vorstellung, dass diese Kinderbilder in die H&M-Filialen der Welt ausgesandt werden, ausrücken, um Billigmode zu verkaufen, und nach getaner Arbeit an ihren Herkunftsort zurückkehren, um spurlos vernichtet zu werden).
Mittlerweile wird beim H&M-Schaufensterkonzept nicht mehr auf Plakate, sondern auf Mannequins gesetzt. Diese sind ebenfalls ein seriell bearbeitetes Motiv in Juliers Arbeit. Er fotografiert immer wieder die Schaufensterpuppen auf der Rue Saint-Denis. Wind und Wetter haben den Figuren über die Jahre zugesetzt, ihre Beschichtung beschädigt, ihre Farbe abblättern lassen. Bestimmt sind sie schon einmal umgekippt, auf dem Kopfsteinpflaster aufgeschlagen, haben auf dem allmorgendlichen Weg aus dem engen Geschäft auf die Strasse und der abendlichen Heimkehr den Türrahmen oder die scharfe Kante eines Regals geküsst. Julier fotografiert die verwitterten, verletzten, vernarbten Puppenköpfe im Profil, als Frontalansicht, im Halb- oder Dreiviertelprofil, profil perdu. Die Köpfe zeichnet er bewusst scharf, während er den Bildhintergrund in Unschärfe verschwimmen lässt. Ihn interessieren die Eigenheiten der Gesichter, wenn Gesicht auch bedeuten kann: ein Holzscheit in der Form eines menschlichen Kopfes, die Vorderseite wie ein in dicke Scheiben geschnittener Brotlaib; wenn Gesicht auch bedeuten kann: dunkel getöntes Acrylglas, transparent oder reflektierend, je nachdem, aus welcher Position man den Puppenkopf betrachtet. Charakter-köpfe, Porträts. Wer unterscheidet beim Porträtieren heute noch zwischen Person und Objekt? Funktioniert eine Puppenvisage aus verdunkeltem Kunstglas, transparent, reflektierend, zerbrochen, nicht ähnlich wie ein menschliches Gesicht? Wir glauben, von der Oberfläche des Gesichts auf den inneren Gefühlszustand schliessen zu können, wir projizieren darauf, sehen darauf Mienen, die unterschiedliche Deutungen zulassen. Sucht im zeitgenössischen Porträt überhaupt noch jemand ein Individuum? Falls ja, machen einem die Schaufensterpuppen an der Rue Saint-Denis diese Suche vielleicht leichter als die H&M-Kinder der Distant Relatives? Es geht wohl auch hier weniger darum, Individualität zu schildern, als um einen Diskurs über die Gattung Porträt, um das Porträtieren und dessen Resultate als reine Oberfläche, um die Porträtbetrachtung als reine Projektion der eigenen Subjektivität. The surface is all you have got. Das für Porträts untypische µuerformat, das der Künstler auch für die Distant Relatives gewählt hat, bettet jeden Puppenkopf in eine Landschaft, in einen in seiner Unschärfe cinematisch anmutenden Raum ein, den wir mit eigenen Narrativen füllen. Beim Fotografieren an der Rue Saint-Denis wird Julier einmal von einem Verkäufer angeschnauzt, eifersüchtiger Bewacher seiner Mannequins in Billigmode, „No photo!“, als ob er wie Balzac fürchtete, dass mit jedem Porträt eine Schicht des fotografierten Individuums — in diesem Fall einer Schaufensterpuppe — abgetragen würde. Als der Künstler ihm dann aber die soeben geschossenen Bilder auf dem Kameradisplay zeigt: Begeisterung. Die Schaufensterpuppe, durch den Apparat in ein Bild übersetzt, erscheint seinem Besitzer in einem neuen Licht. „Mach‘ noch eins von der anderen Seite!“. Die Idee von Fotografie und Puppe als strukturellen Pendants, Erstere eine Spur/Verdoppelung des „Wirklichen“, Letztere eine Stellvertreterin/Doppelgängerin des Menschen (eine fotografierte Puppe ist eine verdoppelte Doppelgängerin). Fotografie und Puppe scheinen analog auch als Verkörperungen von Anwesenheit bei gleichzeitiger Abwesenheit. Die Fotografie der Puppe verstärkt die Irritation, welche die Figur der Puppe ohnehin auslöst, potenziert ihre unheimliche Wirkung. Die Fotografie als Barthes‘ „lebendiges Bild von etwas Totem“ animiert die leblose Figur und wir Betrachter*innen ver-lebendigen sie, suchen nach Verbindungen und Chronologien im Seriellen, im Sich-Wiederholenden.
In der Papiertüte, die mir Julier hinterlegt, bevor er ins Wallis fährt, um den Bewegungsmelder einer Installation auszutauschen, finde ich einen dicken Stapel ausgedruckter Fotos neueren Datums. Ich lege die Bilder auf dem Atelierboden aus, Serien von Typologien werden sichtbar, Motive, mit denen der Künstler sich über längere Zeit beschäftigt hat und weiter beschäftigt. Neben fotografierten Werbeplakaten — nicht nur Kinderporträts, sondern auch übersprayte Logos von Luxusmarken — und Mannequins — nicht nur Puppenköpfe, sondern auch Torsi, aus deren Hälsen Kleiderbügel herausragen —, stapeln sich Aufnahmen von Rabenvögeln. Landend, sitzend, wieder abhebend, Anflugsziel bzw. Abflugort stets schon im Bild oder noch, ein Ast, eine Strassenlaterne, eine Statue (die Keule, mit der Theseus den Minotauren erschlägt). Die Statue befindet sich im Pariser Jardin des Tuileries, die Bäume und Strassenlaternen könnten in Rom oder Berlin stehen. Die Vögel sind da, wo Julier arbeitet. Er beschreibt sie als einen Chor, der ihn beim Fotografieren stets begleitet. Mir gefällt diese Vorstellung eines städteüberspannenden Singvogel-Chors auch im Wissen, dass bestimmte Corviden je nach Lebensraum in unterschiedlichen Dialekten krähen (bestimmt sagen sie dasselbe über uns Menschen). Gegenüber dem Zürcher Atelier des Künstlers sitzt ein Krähenpaar auf einem Gitterzaun und unterhält sich leise schnatternd in seiner Geheimsprache, der Zweitsprache der Krähen, die nur für Partner und Nachwuchs verständlich ist. Es sind zwei Vögel, die Julier seit Jahren beobachtet. Wieso er sie bisher noch nicht fotografiert hat? Er wird es sicherlich noch tun.
Die Kinderplakate sind aus den H&M-Schaufenstern verschwunden, die Mannequins in der Rue Saint-Denis werden Opfer des Ladensterbens, aber die Rabenvögel kann man immerhin beim Wegfliegen festhalten. Nein, das ist kein guter Schluss. Lieber eine Anekdote für die Rubrik Photographs not taken: Julier geht einmal zu Fuss und mit Kamera über die Boulevards, die parallel zur Périph verlaufen, nach Westen. Im 92e, Banlieue Ouest, Nanterre, La Défense, in der Cité Pablo Picasso unter den Tours Aillaud fährt ihm ein Jugendlicher auf einer Yamaha TMAX (oder NMAX oder XMAX) in hohem Tempo entgegen, demonstrativ schlitternde Vollbremsung, unmissverständliche Mitteilung, er sei mit seiner Kamera in der Cité nicht erwünscht. Julier macht kehrt — ohne Widerrede, auf dem langen Rückweg und bis heute die Reue, den Raser nicht nach einem Porträt gefragt zu haben. Roman Selim Khereddine, 2023
–Roman Selim Khereddine
Mit Zitaten aus Susan Sontags On Photography (1977), Thomas Bernhards Extinction (1996), Richard Avedons Borrowed Dogs (2002) und Roland Barthes’ Camera Lucida (1980).
JUST A FEW DROPS DOWN THE HATCH, Cahiers d'Artistes, Pro Helvetia und Jungle Books, 2023